Die zwei Elstern

Ich bin keine Ornithologin und der Ort, an dem ich mich zum Zeitpunkt meiner Beobachtung befinde, lässt auch nicht auf eine spektakuläre Naturbeobachtung schließen…

Ich befinde mich im Badezimmer – mit der Zahnbürste im Mund. Da ich im 2. Stock wohne, bin ich oft mit den Tauben und Elstern auf Augenhöhe. Ich schaue in Platanen und Tannen und auf die Eibe. Die zwei Gärten in der Nachbarschaft aus der Vogelperspektive.

Zähneputzend fällt mir also wieder eine Elster in den Blick, die mit einem Zweig im Schnabel an meinem Fenster vorbei fliegt. Seit ein paar Tagen registriere ich dieses eher nebenbei – heute aber habe ich Zeit und Muße und vor allem große Lust, ihr hinterher zu schauen. Ich nehme mir das Fernglas und einen Kaffee, lehne mich ans Waschbecken und freue mich über den exklusiven Platz, denn die Elster steuert eine Stelle in der Platane an, auf die ich völlig freie Sicht habe.

Schon seit ein paar Jahren frage ich mich, woher die Vögel ihr Wissen haben, ihr allererstes Nest zu bauen. Beobachten sie als „Junggesellen“ ihre Artgenossen oder steckt die jeweilige Bauweise ihnen „in den Genen“? Wie vollbringen diese wunderbaren Geschöpfe diese Meisterleistung, nur mit Schnabel und Füße ausgestattet, ein Nest zu bauen.

Wäre es eine Aufgabe gewesen, in dieser mir so vertrauten Platane, eine Stelle auszusuchen, in der ein Nest gebaut werden könnte, so wären es hundert andere „bessere“ Stellen gewesen und niemals die, auf die ich nun unzählige Male am Tag meinen Blick richten werde.

Der Zweig im Schnabel ist länger als die Spannweite ihrer Flügel. Sie landet ein paar Äste unterhalb ihres Zieles und schaut nach oben. Sie hüpft von Ast zu Ast, kommt immer näher. Sie stößt mit ihrem langen Zweig immer wieder an, so dass er bald fast senkrecht im Schnabel gehalten wird und sie ihn dann kurz vor ihrem Ziel verliert. Er fällt ein paar Zentimeter nach unten, bleibt dann hängen. Sie holt ihn sich wieder. Ihr angefangenes Nest – es hätten auch ein paar vom Wind verfangene Ästchen sein können – liegen am Stamm, von dem an dieser Stelle zwei etwa handgelenksdicke Äste auf gleicher Höhe in zwei verschiedene Richtung heraus wachsen. Aus einem dieser Äste wächst wieder einer senkrecht nach oben. Dadurch ist an dieser Stelle nicht viel Bewegungsfreiheit.

Sie hüpft auf diese spärliche Ansammlung von Zweigen. Sucht sie die geeignete Stelle oder „ertastet“ sie diese? Sie hüpft ein paar Mal über diese Fläche, dann kommt sie ins Tun. Sie quetscht sich förmlich zwischen die Äste, zieht und zerrt an ihrem Zweig, hält mit dem einen Fuß scheinbar die Balance, mit dem anderen hält sie einen anderen (?) Zweig fest. Stellenweise arbeitet sie so sehr, dass sie kopfüber mit ihrem Schnabel und ein Bein in der Höhe ihre Aufgabe bewältigt.

Dabei ist sie keineswegs alleine. Wie gesagt, ich bin keine Ornithologin. Ich kann Herr und Frau Elster nicht auseinander halten. Aber es schien, als würde nur eine/einer für den Bau zuständig sein. Immer wieder waren sie auch für eine zeitlang weg. Kamen sie wieder, mit oder ohne Zweig im Schnabel, so hüpften sie einmal um das Nest herum. Schienen es zu betrachten. War es eine Kontrolle, ob es verändert wurde? Oder war es tatsächlich die Überlegung, an welche Stelle der aktuelle Zweig am besten eingebaut werden sollte. Die verbauten Zweige wurden immer wieder kontrolliert. Im Nest sitzend hat sie jeden Zweig genommen und leicht an ihnen gezogen, als wolle sie die Stabilität überprüfen. Sie setzte sich auch rein. Es gab „Kontrollen“, an denen dachte ich mit meinem Sinn für Gemütlichkeit „Oha – das ist aber eng“.

Die Bauphasen wechselten sich ab mit den Zeiten, an denen sie nicht zu sehen waren. Kurz vor der Dämmerung schaute ich wieder einmal zu dem langsam erkennbaren Nest. Eine Krähe saß direkt daneben und schien es zu begutachten. Wie groß sie mir auf einmal erschien. Sofort suchte ich nach der Elster. Sie saß in einigem Abstand, mit dem Blick Richtung Krähe. Ich hörte sie nicht, aber ihr Schnabel bewegte sich. Ich schaute wieder zur Krähe hoch, die sich dem Nest noch mehr näherte. Es schien, als wolle sie die verbauten Zweige näher betrachten. Wäre sie ein Hund, so hätte ich gesagt, sie würde daran schnüffeln. Ich merkte selber, dass ich hoffte, sie würde nicht an den Zweigen ziehen – Arbeit einen ganzen Tages wären dahin. Ich schaute wieder zu den Elstern. Beide behielten den Abstand von ungefähr einem Meter, schauten immer in diese Richtung.

Was war es, was die Krähe veranlasste, das Nest zu begutachten? Irgendwann flog sie weg. Sie hatte das unfertige Nest nicht berührt. Die beiden Elstern hüpften langsam näher. Sie schienen plötzlich so klein. Dann der Blick des Tages. Er erschien wie eine Aufnahme mit dem Tele-Objektiv: Großaufnahme der Elster von hinten. Breitbeinig stehend mit dem Blick zum Nest. Das Astwerk der Platane hinter dem Nest leicht verschwommen, gerade noch erkennbar eine Taube…

Nicht nur, dass der Bau des Nestes an sich schon eine Herausforderung ist. Haben sie auch noch zusätzlich mit Hürden zu kämpfen. Und dennoch folgen sie Jahr um Jahr ihren geheimnisvollen Plan…

Den Tag darauf flogen die beiden Elstern wieder an meinem Fenster vorbei. Mit einem langen Zweig im Schnabel – aber in die entgegengesetzte Richtung. Im Laufe diesen Tages konnte ich beide Elstern in regelmäßigen, zeitnahen Abständen in der Tanne beobachten, in der sie eine Unmenge an Zweigen sammelten oder regelrecht „pflückten“. Sie würdigten ihre gestrige Arbeit mit keinem Blick. War es nur ein Übungsfeld? Oder hat die Krähe ihnen doch einen Schrecken eingejagt? Spürten sie, dass sie beobachtet wurden oder ist es bei den Elstern auch so, dass das Männchen mehrere Nester anfängt und das Weibchen sucht sich dann eins aus…?

Nächster Tag. Vom ersten „Nest“ ist nichts mehr zu sehen – kein einziger Zweig liegt mehr an dieser Stelle. Was war damit geschehen? Sind die Zweige runter gefallen oder haben sie diese wieder verwendet? Regelmäßiges Wiederkehren beider Elstern in der Tanne gegenüber. Sie zupfen und zerren an den Zweigen. Meistens ist der Blick von den Nadeln verdeckt. Zwei Stellen fliegen sie regelmäßig an und dann wieder entfernen sie sich.

Die Sonne lässt ihr Gefieder wunderschön schimmern. Elstern sehen so „normal“ aus. Nicht wirklich halten wir inne, löst ihr Anblick Begeisterungsstürme aus wie so manch andere Vogelarten. Doch erscheinen sie „im rechten Licht“, so wird ihre wahre Pracht deutlich. Die unterschiedlichen Blau- und Grüntöne, die auf wundersame Art für einen kurzen Moment sichtbar werden.

Sie fliegen meist in die gleiche Richtung. Als wären sie mit dieser Tanne und einer anderen Stelle verbunden. Scheinbar durch ein unsichtbares Signal mitten aus ihrem Tun drehen sie sich um und fliegen davon. Manchmal sitzen sie auf einem Ast, halten inne und fliegen dann los. Nicht im graden Flug, eher, als würden sie sich auf die tragende Luft stürzen und sich im Gleitflug auffangen.

Das Eichhörnchen kommt auf seiner üblichen Route an der Tanne vorbei. Die eine Tanne immer den Stamm kreisend hinauf und an der dicht daneben stehenden Tanne wieder hinunter. Mehrmals am Tag. Doch heute wird sie arg von der Elster bedrängt. In entgegen gesetzten Kreisen versucht die Elster das Eichhörnchen runter zu drängen. Sogar eine Blaumeise wird verscheucht. Nur um den „Vorratsbaum“ zu schützen ist das eine Menge Engagement. Ich suche das Grün der Tanne genauer ab und entdecke praktisch gerade vor mir wieder eine Ansammlung von Zweigen auf den Tannenzweigen liegen.

Irgendwann haben sie einen Zweig im Schnabel, als sie zur Tanne fliegen. Eine der Elstern landet unterhalb dieser Ansammlung, so dass diese wie ein kleines Dach aussieht. Ja, diese Stelle hätte ich mir auch ausgesucht. Die zweite Elster landet in der abgewandten Seite. Ich sehe nicht genau, was sie macht. Bei der nächsten Ankunft hat sie den Schnabel voller Matsch. Leider landet sie wieder an der nicht wirklich einsehbaren Seite. Nur an den Bewegungen wird deutlich, dass da eifrig gearbeitet wird. Die zweite Elster trägt ebenfalls eine Ladung Matsch im Schnabel und fliegt mir gegenüber unter das „Dach“. Bei ihrer Landung bewegt sie einen voll benadelten Zweig, so dass kurz die Sicht auf ein paar hier platzierter Zweige frei wird. Sie stopft den Matsch unter diese Zweige und hämmert ihn richtig fest. Dient er zur Stabilisierung? Begradigt er den „Grund-Zweig“ oder andere schief liegende Zweige? Die zweite Elster orientiert sich noch zum Aufbau auf der anderen Seite. Dieses „Nest“ hat mit Sicherheit den schöneren Ausblick. Dieser wird durch keinen hohen Baum oder ein Gebäude gestört und lässt den Blick auf die Gärten zu. Witterungsgeschützter ist der andere Platz, auch wenn er näher der Straße ist. Die andere Tanne und unser Haus in Blickrichtung. Was sind Prioritäten für den perfekten Platz? Sicher nicht die Aussicht. Die Sicherheit? Wie stabil sind die Zweige, halten sie einem Sturm stand? Wie erreichbar ist das Nest für Feinde? Spielt die Witterung eine Rolle? Bei dieser Bauweise eher unwahrscheinlich.

Es entwickelt sich im Laufe des Tages eine Art Teamarbeit. Ich habe den Eindruck, als wäre das „Dach“ das Materiallager. Das Nest nimmt langsam Formen an. Wieder mit relativ wenig Bewegungsfreiraum. Die Elster zieht einen Zweig aus dem Lager und steckt es senkrecht in das entstehende Nest. Manchmal fällt ein Zweig senkrecht runter, dann nimmt sie den nächsten oder aber die zweite Elster gibt ihr einen an. Sie bearbeitet das Nest von unten und von oben, so dass die Zweige immer weiter ineinander verwebt oder, vom Kraftaufwand her, miteinander verhakt werden. Benötigt sie den nächsten Zweig, so sieht es aus, als würde sie aus dem grünen (Tannen-) Dickicht auftauchen. Manchmal ist nur ihr Köpfchen zu sehen.

Sie steigt auf das „Lager“ und zieht und zerrt an einem Zweig. Immer wieder einer in Y-Form, der sich mit den anderen verhakt. Sie lässt ihn los. Packt ihn an einer anderen Stelle, zieht wieder. Er rutscht etwas tiefer. War es so gewollt? Sie kann ihn von unten rausziehen. Oder aber er rutscht ganz aus dem Gewurschtel heraus, so dass sie ihn nur noch ein Stück tiefer von dem Zweig, an dem er hängen geblieben ist, greifen kann. Muss sie zu sehr ziehen und zerren, will sich der angestrebte Zweig so gar nicht freilegen lassen, so unterbricht sie ihr Mühen und fliegt weg.

„Was machst du eigentlich die ganze Zeit?“ „Ich beobachte die beiden Elstern.“ „Ach, die machen doch nur Krach und scheißen alles voll…“ Eine andere Sichtweise auf dieses Vogelvolk…

Heute geht alles sehr viel bedächtiger zu. Zumindest im Bezug auf das Nest in meiner unmittelbarer Nähe. Der Fokus scheint auf den „Innenausbau“ zu liegen. Es werden nicht mehr flügelspannweitenlange Zweige gebracht, sondern sehr viel feineres Material. Angefangen von filligraneren Ästchen bis hin zu – es sah schon fast aus wie ein Büschel Haare. Auch einen Schnabel voller Matsch kommt ab und an dazu. Da es die Nacht ziemlich geregnet hat, ist der Matsch relativ flüssig. Teilweise ist sie bis weit über den Schnabel voller flüssiger Erde. Ich stelle mir vor, wie ich eine Elster im Boden wühlen sehe und davon ausgehe, sie suche nach Würmern… Wieviel interpretieren wir fehl oder gehen davon aus, dass wir genau wissen, was sie mit ihrer Aktion befolgen. Oder vielleicht sogar mutmaßen, was die nächsten Schritte sein werden. Wie viele Entdeckungen gehen uns dadurch vielleicht verloren?

Die Krähe kommt wieder vorbei und wird von beiden Elstern mit großem Getöse weg gejagt. Es ging sehr viel entschlossener zu, als noch vor drei Tagen.

Eine zeitlang sind sie nicht zu sehen. Ich schaue auf die weiter entfernt stehenden Bäume. Sie bewegen sich leicht im Wind. Ab und zu lässt es eine zarte Windböe Knospenschalen der Platanen regnen. Seit gestern fallen sie wie durch ein uns nicht spürbares Signal und die Blätter fangen an sich zu entfalten. Viele Vögel sehe ich in einiger Entfernung zu zweit hin und her fliegen. Immer wieder die gleichen Stellen anfliegend. Und ich weiß, was sie tun, auch wenn ich es nicht näher beobachten kann. Alles folgt dem natürlichen Kreislauf – in Gang gesetzt durch die Länge des Tageslichtes, die Temperaturen und die Weisungen, seit Anbeginn der Zeit.

Sie bauen an dem Nest mit der schönen Aussicht weiter. Vielleicht muss in dem anderen Nest erst einmal der Matsch trocknen… Das Nest scheint offener zu liegen, denn sie fliegen von dort immer nach oben hin weg. Das Nest in unmittelbarer Sichtweite hat sich ordentlich gemacht. Ich muss schon sehr genau hinschauen, um es zu finden. Auch wenn die Elster drin sitzt, ist es kaum zu sehen, außer, die Sonne lässt ihre Federn schimmern. Sie fliegt unter dem das Nest verdeckende Zweig hindurch.

Die nächsten Tage werden sehr viel ruhiger. Es werden keine Äste mehr hin und her bewegt. Die Elstern fliegen das Nest in einem bestimmten Rhythmus an und sind dann auch wieder weg. Es scheint verlassen. Nur bei sehr genauer Betrachtung mit dem Fernglas und einer Portion Glück, so dass eine zarte Brise den Ast leicht hin und her wippen lässt, ist in dem braun, grünen Farbendurcheinander ein weiß, schwarzer Fleck sichtbar. Sie haben es geschafft…

Die folgenden Tage sind eine Herausforderung – es „aprilt“ mächtig. Der starke Wind rüttelt arg an den Bäumen. Die Regen- und Graupelschauer tun ihr übriges. Das Nest wird es nicht schaffen. Ob der Wind einfach zu stark oder es schlussendlich zu durchgeweicht war – die ganze „Matsch-Konstruktion“ ist abgerutscht und die Elstern sind nicht mehr zu sehen.

Zu sehen ist eine Handvoll wild übereinanderliegender Ästchen, gerade noch zusammen gehalten mit einer Handvoll Matsch. Aufmerksame Betrachter werden sich vielleicht fragen, wie der Matsch dort oben hin gekommen ist. Die meisten werden diese Ansammlung auf den Zweigen der Tanne gar nicht erst bemerken. Ich sehe darin eine Geschichte der zwei Elstern…

Cornelia
Cornelia
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